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Die Welt gut regieren. Internationale Lehren aus der Corona-Pandemie

Von Günther Bächler

„Bleibt zu Hause!“ Niemand hätte wohl gedacht, dass weltweit das Jahr 2020 von solch klarer Ansage geprägt sein würde. Vor allem hätte man nicht geglaubt, dass dieser internationale Notruf gesundheitspolitisch begründet sein würde. Wohl eher kamen einem die Bilder von massiven Straßenschlachten in zahlreichen Hauptstädten in den Sinn, welche das vergangene Jahr geprägt haben. Aber die Straßen sind leergefegt; es herrscht Ausnahmezustand. Niemand weiß, für wie lange.

Will man – besser heute als morgen – internationale Lehren aus der Corona-Pandemie ziehen, dann sollte man die Folgen der Krise aus großer Flughöhe betrachten. Was wir von oben sehen können, sind Verwerfungen, deren Ausmaße diejenigen der Weltwirtschaftskrise und der globalen Finanzkrise übersteigen. Obwohl bei solchen Vergleichen die globale Messlatte angelegt wird, sehen wir einen blauen Globus, der ziemlich zerklüftet und zerzaust durch das Weltall taumelt. Die weltumspannende Bedrohung lässt Bruchlinien und tiefe Gräben zwischen Ländern und Regionen deutlich sichtbar werden. Schranken runter, Grenzen dicht, Exportverbote, nationale Notfallpläne, Durchregieren, Ausnahmezustand. Die fehlende Schutzmaske wird zum Symbol einer fehlgeleiteten Globalisierung. Wenig Solidarität, viel Sankt-Florian. Das Leben von eigenen Staatsangehörigen steht über dem Leben der anderen, ja über der Würde des Menschen.

Wir erblicken aus großer Höhe zudem die Konzentration auf den Nationalstaat als jene Handlungsebene des globalen Systems, welche die jeweilige Bevölkerung am besten schützen kann. Internationale Organisationen spielen eine marginale Rolle und wenn überhaupt, dann als potentielle Kreditgeber. Ein näherer Blick auf die nationale Ebene rückt indes höchst unterschiedliche Reaktionen ins Zentrum: diese reichen von strikter Ausgangssperre rund um die Uhr bis zur sorglosen Missachtung, von knallharten Notverordnungen bis zur Verharmlosung und Verächtlichmachung, von autoritären Übergriffen mit Hilfe der Sicherheitskräfte bis hin zur liberalen Überantwortung der Verantwortung an den/die Einzelne/n. Und dann gibt es diejenigen, die aus Unvermögen oder aus Risikofreude auf die Durchseuchung und Herdenimmunität setzen.

Können wir uns im „Anthropozän“, im Zeitalter des Menschen und seinen globalen umweltzerstörerischen Fähigkeiten eine solche Palette an mehr oder weniger existenzbedrohenden Reaktionsweisen überhaupt noch leisten? Gegenfrage: Wie müsste die globale Gouvernanz beschaffen sein, um mit Covid-19 und den auf uns zukommenden Pandemien wirksam verfahren zu können? Als Antwort sehe ich fünf entscheidende Faktoren:

  1. Wir brauchen die Kooperation der Staatengemeinschaft, welche eine globale normative Gouvernanz zum Schutz der Weltbevölkerung etabliert und legitimiert. Das ist existentiell wichtig, denn die Menschheit wird in naher Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit von weiteren Pandemien heimgesucht werden. Die absehbare Ausbreitung von Keimen aller Art ergibt sich aus dem Klimawandel (Auftauen von unerforschten Keimen aus Permafrostböden), aus der ungebremsten Vernichtung von Lebensräumen, in welchen Träger von Keimen beheimatet sind (hunderte von Arten von Fledertieren) sowie aus der (Wild)Tierhaltung, vor allem in China. Die normativen Richtlinien zur Prävention, Vermeidung und Behandlung von Pandemien bildet den Rahmen für eine vertikale und subsidiäre Struktur von Handlungsebenen. Es geht somit um eine „Policy“, welche Leitlinien und Strategie über globale Abwehrmechanismen, Früherkennung, die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten bis zu konkreten Schutzmaßnahmen umfasst. Dafür müsste eine mit Richtlinienkompetenzen ausgestattete Instanz geschaffen werden. Der Nationalstaat und die substaatlichen Ebenen werden dabei nicht unwichtig. Im Gegenteil: im subsidiären System bildet er die zentrale Handlungsebene zur wirksamen Umsetzung der globalen Richtlinien (wie die Bundesländer oder Kantone in einem Bundesstaat). Am einfachsten wäre es, wenn das Generalsekretariat der UNO (GS) mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet würde. Der Generalsekretär könnte von einem Pandemieausschuss beraten und unterstützt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) müsste Teil dieses Ausschusses sein. Die international gut vernetzte (interdisziplinäre) Pandemieforschung sollte einen privilegierten Zugang zu der Instanz erhalten. Die Generalversammlung würde das Mandat für das Pandemiezentrum des GS Beschließen und über die Umsetzung wachen. Die Stärkung der UNO hat den Vorteil, dass die Mitgliedsländer keine neue Organisation gründen müssten, sondern rasch und vergleichsweise einfach eine solche zentrale Instanz schaffen könnten. Jede Maßnahme hängt letztlich vom Willen der Staaten ab. Dieser müsste angesichts der gegenwärtigen Pandemie recht ausgeprägt sein.
  2. Wir brauchen eine globale Sicherheitskooperation, welche nicht die militärische Verteidigung, sondern den Schutz der Menschheit bzw. der nationalen Bevölkerungen zur Aufgabe hat. Eine entsprechende Instanz müsste dazu beitragen, dass die normativen Richtlinien auch tatsächlich kooperativ und kollektiv von der Staatengemeinschaft eingehalten und Strategien zur Umsetzung erarbeitet werden. An sich wäre der Weltsicherheitsrat der UNO das geeignete Gremium für die Früherkennung, rechtzeitiges Handeln und den strategischen Weltbevölkerungsschutz. Vor dem Hintergrund der aktuellen Lähmung des Gremiums sollten längst erarbeitete Reformkonzepte ernsthaft erörtert und konkretisiert werden. Analog zu den bisherigen UNO-Sicherheitsratsresolutionen zur Bewahrung des Weltfriedens müssten Resolutionen zum Schutze der Weltbevölkerung vor Pandemien verabschiedet werden. Ein reformierter und um Länder aus allen Kontinenten verbreiterter Sicherheitsrat sollte zu einem System kollektiver Pandemiesicherheit werden. Der Sicherheitsrat würde ebenfalls im Pandemieausschuss beim GS vertreten sein und damit die Kommunikation zwischen der Policy- und der operativen Ebene gewährleisten. Die UNO müsste die Mitgliedsländer ferner durch die Bildung von Lagern und Reserven in der Bekämpfung von Pandemien unterstützen; aufgrund der zahlreichen Peacekeeping-Operationen und den Missionen des UNHCR kann die UNO auf wertvolle Erfahrungen in der Logistik zurückgreifen (z.B. die Basis in Brindisi).
  3. Wir brauchen in Zeiten der Pandemien eine gute Regierungsführung auf nationaler Ebene. Die Frage ist: Wie gehen klug regierte Länder mit den globalen Richtlinien konkret um? Was wir heute sehen können: Wer frühzeitig und effizient reagiert, kann relativ rasch die Ansteckungsketten in den Griff bekommen und die sozio-ökonomische Struktur und die Kultur schützen. Wer zu spät reagiert, tendiert dazu, panisch den Lockdown zu verordnen, nur um diesen viel zu früh und unter wirtschaftlichem Druck wieder aufheben zu müssen. Die vier bis sechs Wochen, welche die europäischen Länder im Februar und März 2020 durch Zögern und Zaudern im Schnitt verloren haben, kommen uns alle teuer zu stehen. Sämtliche Politikbereiche und die Wirtschaft hängen ausgerechnet von dem Teilsystem ab, welches in den meisten Ländern das schwächste Glied in der Kette bildet: das Gesundheitssystem bzw. die Notfallmedizin und deren Ausstattung. Die Anzahl von Intensivbetten wird so zum Maßstab für die Verhängung des Ausnahmezustands. Die Policy weltweit müsste daher lauten: Anstatt eine hohe Zahl Infizierter und uferlose Kosten zu riskieren, gilt es, den umfassenden sozio-ökonomischen und kulturellen Stillstand durch Früherkennung, Prävention, Tests und Tracing sowie Isolierung zu vermeiden. Hinzu kommt eine moderne und auf Pandemien eingestellte Intensivmedizin sowie entsprechende Vorsorge (Lagerhaltung von Schutzmaterial). Die Weltgemeinschaft kann von denjenigen Ländern lernen, welche die Pandemie relativ erfolgreich bekämpft haben: Neuseeland, Taiwan, Deutschland, Finnland, Norwegen, Dänemark und Island. Es kann kein Zufall sein, dass alle diese Länder von Frauen regiert werden, welche sich in der Frage der Regierungsführung auch sonst einen guten Namen gemacht haben (siehe auch die jüngste Ausgabe von „Forbes“ dazu).
  4. Wir brauchen somit eine effiziente und effektive subsidiäre Umsetzung der Richtlinien und Maßnahmen auf globaler, nationaler und lokaler Ebene. Subsidiarität ermöglicht die lokal angepasste und differenzierte Umsetzung von Policy-Leitlinien. Ein wirksamer Bevölkerungsschutz müsste vom lokal vorhandenen Wissen, den gewach-senen Strukturen und den verfügbaren Ressourcen ausgehen. Den substaatlichen Instanzen und vor allem den Kommunen käme dabei wiederum subsidiär die wichtige Funktion des konkreten Bevölkerungsschutzes zu (sanitäre und hygienische Umsetzung). Bevölkerungsschutz und Volksgesundheit sind auch eine Frage der Armutsbekämpfung. Letztere ist somit auch ein wesentlicher präventiver Faktor. Es geht beim Bevölkerungsschutz um vergleichbare Fähigkeiten wie bei der militärischen Verteidigung: frühe Erkennung, Bereitschaft und rasche Reaktionsfähigkeit. Hinzu kommen Instrumente zur Vorsorge (Impfung), zur Diagnose (Testen) und zur Therapie (Medikamente, Intensivkapazitäten). Vielleicht sind wir wieder an dem Punkt, an dem wir während des Kalten Kriegs schon einmal waren: Beim System der Gesamtverteidigung, welche „normales“ Funktionieren der Gesellschaft in Krisen- und Kriegszeiten zum Ziel hatte. Heute kämen zwingend die Komponenten der präventiven und der kooperativen Pandemiebekämpfung hinzu. Das in der UNO und den internationalen Beziehungen als „soft law“ verankerte Konzept: „Responsibility to protect“ wäre leicht um die Dimension des „Schutzes der Bevölkerung vor Pandemien“ zu erweitern und auf nationalstaatliches Handeln zu übertragen.
  5. Wir brauchen für all das ein globales Bewertungssystem, damit kluges Regierungshandeln belohnt und nationale Alleingänge, Regierungsversagen oder stupides Regierungshandeln sanktioniert werden. Ähnlich wie beim existierenden „Human Security Index“ (HSI) könnte das Pandemiezentrum der UNO einen Index für den Umgang mit Pandemien einführen. Wie beim HSI müsste ein Ranking aufzeigen, welches Land wie und mit welchen Maßnahmen auf Pandemien reagiert hat bzw. reagieren kann. Je nach Verortung in diesem Ranking kann die einzelne Regierung mit einem Bündel von internationalen Maßnahmen rechnen: Diese reichen von Anreizen, über Empfehlungen, Sanktionen, bis hin zu konkreter Unterstützung. Zielbereiche sind: Notverordnungen zu verhindern und einen eventuellen Ausnahmezustand geographisch möglichst zu begrenzen und rasch wieder zu überwinden, sowie die Freiheit und Würde des Menschen trotz der Herausforderungen zu bewahren und zu schützen. Zum Ranking gehören auch die Transparenz und Informationspolitik eines Landes, das von einer Pandemie betroffen ist. So war das anfängliche Verschweigen der Pandemie in China offensichtlich mitverantwortlich für den massiven Ausbruch der Pandemie in der Lombardei und später weltweit.

Die Einführung einer wirksamen globalen Gouvernanzstruktur mag angesichts der zunehmenden geopolitischen Konkurrenz und den sich akzentuierenden Bruchlinien des internationalen Systems utopisch klingen. Aber wir haben angesichts der interdependenten existenzbedrohenden Entwicklungen (Klimawandel, Umweltzerstörung, Pandemien) keine andere Wahl. Wie die Corona-Krise eindrücklich zeigt, geht es auf globaler Ebene vor dem Hintergrund der Bekämpfung der Pandemie längst (wieder) um eine Auseinandersetzung zwischen der liberal-demokratischen und der autoritär-nationalistisch geprägten Welt. Wer die Freiheit schätzt, kann es nicht zulassen, dass ein Virus zur Waffe in der Hand autoritärer oder totalitärer Regime und ihren Sicherheitsorganen wird, welche die Freiheit vernichten möchten und den globalen Ausnahmezustand zur Regel werden lassen. Der gemeinsame Kampf gegen viral beförderte „autoritäre Pandemien“ wird lange und schwierig sein, denn auch das Virus der autoritären und technischen Unterwerfung des Menschen befindet sich ja längst mitten unter uns. Je länger wir warten, desto mehr breitet es sich aus. Wie sagt Albert Camus in dem heute wieder viel gelesenen Roman: Die Pest (1947): „Wer zu lange warten muss, hört irgendwann auf, zu warten“.

Demokratisch und gut regierte Länder haben in der Tat keine Wahl: sie müssen zum Schutz der eigenen Freiheit und der Bevölkerung eine globale Instanz einfordern, um die weltweiten Rahmenbedingungen für einen menschenwürdigen, sozio-ökonomisch tragfähigen und demokratiekonformen Umgang mit globalen Bedrohungen (Pandemien, Klimawandel, Umweltveränderungen) zu schaffen. Nur so können die Schlagbäume wieder senkrecht gestellt werden.