Kooperative Sicherheit ist für konfliktbetroffene Gebiete zu einer Überlebensfrage geworden. Es braucht Alternativen zu nationalistischen Alleingängen und abgeschotteten Grenzen.
Europa ist wieder einmal geteilt. Anders als im Kalten Krieg gibt es nicht nur eine Trennlinie, sondern viele: zwischen Russland und dem Westen, innerhalb des Westens, dessen Einheit zunehmend zerbröselt. Die grösste Gefahr für Europa geht seit 2014 von der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und vom Krieg und von der Verletzung der territorialen Integrität in der Ostukraine aus.
Kriegsrisiken
Lässt sich der ostukrainische Brandherd auf Dauer diplomatisch eindämmen, oder droht daraus ein Flächenbrand zu entstehen? Drei Entwicklungen erhöhen das Kriegsrisiko: Erstens hat Russland als Antwort auf die Osterweiterung von Nato und EU mit der Unterstützung von Sezessionen (Moldawien, Georgien), mit einer Annexion (Krim), mit militärischen Interventionen (Ostukraine), mit Schutzmachtversprechen (Abchasien, Südossetien) und mit der Stationierung von Truppen und Grenzschutz (Armenien) einen sich ausbreitenden Machtkonflikt zwischen Ost und West verschärft. Darüber hinaus beruft sich Präsident Putin auf eine genuine «russisch-orthodoxe Zivilisation»; der kulturelle Gegensatz zu Europa erlaubt die Verteidigung der russischen Werte und Bürger – wo und mit welchen Mitteln auch immer.
Zweitens ist anstelle des Eisernen Vorhangs seit 1992 eine Zone überlappender Wirklichkeiten entstanden, die sich vom Baltikum bis an das Kaspische Meer erstreckt. Es ist kein menschenleerer Sperrgürtel, sondern ein breites Band mit sozioökonomischen Beziehungen, in welchen sowjetische Traditionen von westlichen Einflüssen überlagert werden. Die Menschen dort wollen Teil Europas sein, ohne Gegner von Russland sein zu wollen. Zwischen Ost und West hat sich eine Mitte aufgetan, welche ein verbindendes Element hätte sein können. Inzwischen ist die Mitte hart umkämpft und von abtrünnigen, besetzten, annektierten Gebieten und territorial desintegrierten Staaten zerschnitten. Die Territorialkonflikte in Nagorni Karabach, Abchasien und Südossetien setzen der multiplen Orientierung enge Grenzen: Anstatt kooperative Sicherheit ist eine Zone der menschlichen und staatlichen Unsicherheit, der Angst, Armut und humanitären Not entstanden.
Drittens sind die kooperativen Sicherheitsnetze, welche die OSZE über Europa gespannt haben, zerrissen. Das Vertrauen ist am Schwinden, während die Schleusen für wachsendes Misstrauen, für Schuldzuweisungen über Fehler in der Vergangenheit, für grundsätzlich unterschiedliche Narrative und für Rechthaberei weit geöffnet sind. Von Diskurs und Verständigung über die gemeinsamen europäischen Werte, wie sie in den OSZE-Dokumenten zugrunde gelegt sind, kann keine Rede mehr sein. Der geostrategische Konflikt zwischen Russland und den westlichen Führungsmächten vergrössert das Risiko von Missverständnissen, von direkten militärischen Zusammenstössen, von lokaler Konflikteskalation und nicht zuletzt von Rüstungswettläufen. Taktische Atomwaffen («suitcase nukes») verwischen die Grenzen zwischen konventionell und atomar geführten Kriegen. Die Verträge zum Verbot landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa (INF-Vertrag) wurden am 2. August 2019 ausser Kraft gesetzt. Die Vorwarnzeit für einen Nuklearschlag beträgt – wie im Kalten Krieg – ein paar wenige Minuten. Szenarien eines auf Europa begrenzbaren Krieges sind denkbar. In Zeiten transnationaler und globaler Gefährdungen kann die Orientierung am Status quo nur eine kurze Verschnaufpause sein.
Vertrauensbildung
Zurück zur Diplomatie und vorwärts zur Kooperation – aber wie? Angesichts der Gefahren muss zuerst das Vertrauen in einen Neuanfang aufgebaut werden. Die im Herbst 2019 gegründete Initiative für Kooperative Sicherheit in Europa (CSI) nimmt die Alarmzeichen ernst. Die Idee zur CSI geht auf den Schweizer OSZE-Vorsitz 2014 zurück. Sie wurde vom slowakischen Vorsitz 2019 wieder aufgegriffen und wird vom Generalsekretär der OSZE aktiv unterstützt. Das Wiener Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie das in Bratislava beheimatete Institut GLOBSEC sind für die Umsetzung verantwortlich. Die CSI richtet sich mit drängenden Fragen an alle Interessierten.
Nicht zuletzt die kleinen Länder sollen ihre Ansprüche an die gemeinsame, gleiche und umfassende Sicherheit geltend machen. Für die konfliktbetroffenen Gebiete ist kooperative Sicherheit zu einer Frage des Überlebens geworden. Das heisst: Anstatt nationalistische Alleingänge, Rüstungsspiralen und stacheldrahtbewehrte Grenzen um Einflusszonen sind innovative Konzepte der Kooperation gefragt.
Günther Bächler war Botschafter der Schweiz in Georgien und Armenien. Zuletzt war er für drei OSZE-Vorsitzende als Spezialgesandter für den Südkaukasus tätig und Co-Vorsitzender der Genfer Gespräche zwischen Russland und Georgien. Er gehört zu den Experten der Cooperative Security Initiative.
Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/kriegsgefahren-in-europa-mit-kooperativer-sicherheit-begegnen-ld.1533690